Historische Theologie

Johann Gerhard: Von der Heiligen Schrift

Johann Gerhard: Von der Heiligen Schrift, übers. u. hg. von Heinrich Martin Wigant Kummer, Bibliothek lutherischer Klassiker 2, Neuendettelsau: Gesellschaft für Innere und Äußere Mission / Abt. Freimund Verlag, 2019, Hb., 756 S., € 34,90, ISBN 978-3-946083-30-6


Nach dem „Handbuch der vornehmsten Hauptteile der christlichen Lehre“ (1579) von Martin Chemnitz erscheint in der Reihe „Bibliothek lutherischer Klassiker“ ein weiteres bedeutendes Werk der lutherischen Orthodoxie, Johann Gerhards Abhandlung „Von der Heiligen Schrift“ (1625): Ein Buch im Bibelformat, das aber nur Johann Gerhards Schriftlehre behandelt.

Der Übersetzer Heinrich M. W. Kummer hat als Lektor, Übersetzer und Pfarrer gearbeitet und lebt in Württemberg im Ruhestand. Er hat in diesem Werk nicht, wie man vermuten könnte, den Locus De Scriptura Sacra aus den berühmten Loci theologici von Gerhard übersetzt und herausgebeben. Vielmehr bildet seine – inzwischen digital einsehbare (SLUB Dresden, Bayer. Staatsbibl.) – lateinische Vorlage den ersten Teil der 1625 erschienenen Abhandlung über Heilige Schrift, Gotteslehre und Christologie Exegesis sive uberior explicatio articulorum de Scriptura Sacra, de Deo et de persona Christi … (1625, S. 21–592), der in den ab 1610 publizierten Loci nicht mit derselben Ausführlichkeit behandelt wurde.

Kummer hat Gerhards Schriftlehre nach der Exegesis von 1625 nicht nur übersetzt, sondern auch mit den anderen frühen Drucken verglichen, und so mit Anmerkungen – etwa zu Gerhards Randbemerkungen – eine anspruchsvolle Ausgabe geschaffen. Zuerst ging der Herausgeber nach dem Text der Ausgabe von Eduard Preuss vor (1863, De Scriptura Sacra, S. 8–240), verglich ihn dann nach Friedrich Cottas Edition (1. Band 1762, darin die Schriftlehre: 1. u. 2. Locus, S. 1–91 und die Schriftlehre der Exegesis im 2. Band 1763, 1–427) auch mit der Ausgabe von Gerhards Sohn Johann Ernst Gerhard (1657, Tomus 1, S. 11–216), um die verschiedenen Varianten schließlich mit dem Digitalisat des Originals der Exegesis von 1625 abzugleichen. Im Ergebnis wirkt der Text mit 3.584 Anmerkungen dann zwar etwas unübersichtlich, aber diese Eigenschaft teilt er mit den anderen benutzten Ausgaben.

Johann Gerhard behandelt die Schriftlehre in 27 Kapiteln (HS = Heilige Schrift): 1. Die Onomatologie der HS (19–26); 2. Die Wirkursache der HS (27–50); 3. Die Autorität der HS (51–71); 4. Der Stoff der Heiligen Schrift (72–73); 5. Die Einteilungen der biblischen Bücher (74–77); 6. Die kanonischen und apokryphen Bücher im Allgemeinen (78–129); 7. Die kanonischen Bücher des Alten Testamentes im Einzelnen (130–167); 8. Die apokryphen Bücher des Alten Testamentes im Einzelnen (168–239); 9. Die neutestamentlichen kanonischen Bücher erster Ordnung (240–270); 10. Die neutestamentlichen kanonischen Bücher zweiter Ordnung (271–308); 11. Die apokryphen und verwerflichen Bücher des Neuen Testaments (309–313); 12. Die Form der HS (314–318); 13. Die Authentie des Schrifttextes (319–329); 14. Die Integrität des hebräischen Textes 330–346); 15. Die Vokalisationspunkte – Sind sie so alt wie der biblische Kodex? (347–366); 16. Die Integrität des griechischen Textes im Neuen Testament (367–376); 17. Absicht und Wirkung der HS (377–382); 18. Die Vollkommenheit der HS (383–419); 19. Die ungeschriebenen Überlieferungen (420–447); 20. Die Deutlichkeit der Schrift (448–476); 21. Die Norm und Richtschnur kirchlicher Lehren und Streitfragen (477–496); 22. Der Richter kirchlicher Kontroversen (497–528); 23. Das Objekt der HS (529–546); 24. Die Übersetzungen der HS (547–589); 25. Die Auslegung der HS (590–597); 26. Der Usus dieses Artikels (598); 27. Definition der Schrift (599).

Der Überblick zeigt, dass Gerhard viele Themen verhandelt, die wir heute bei den Einleitungsfragen in der alt- oder neutestamentlichen Exegese suchen würden. Ausführlich zitiert er Kirchenlehrer aus der Epoche der Alten Kirche, aber auch aus Mittelalter und Neuzeit, die die evangelische Lehre bestätigen (z. B. 25f). Stellenweise liest sich seine Argumentation wie ein Vorläufer späterer kontroverstheologischer Schriften, die die private Bibellektüre kirchlicher Laien verteidigen (z. B. 529–543, vgl. C. W. Franz Walchs „Kritische Untersuchung vom Gebrauch der HS unter den alten Christen in den vier ersten Jahrhunderten“, 1779; dazu A. Harnack, „Über den privaten Gebrauch der heiligen Schriften in der Alten Kirche“, 1912).

Gerhards „Definition der Schrift“ im letzten Kapitel (599, §539) könnte auch dem ganzen Werk vorangestellt werden: „Die Heilige Schrift ist das Wort Gottes, das, nach seinem Willen von Propheten, Evangelisten und Aposteln niedergeschrieben, die Lehre von seinem Wesen und seinem Willen vollkommen und deutlich entfaltet, damit die Menschen durch dasselbe zum ewigen Leben unterwiesen werden.“ Gott ist die Hauptursache der HS (27ff), werkzeugliche Ursache der HS sind heilige Gottesmenschen, die als „Gottes Schreiber, Christi Hände und des Heiligen Geistes Sekretäre oder Notare“ verstanden werden (34). Aus mehreren Gründen ist es nötig, dass Gottes Wort in der Kirche niedergeschrieben werden musste (34ff). Ihre Autorität gründet auf Gott und nicht auf der Kirche (53). Die fünf Aufgaben der Kirche dagegen sind: Ein Zeuge der HS zu sein, Wächter, Verteidiger, Herold und Ausleger (55).

In der kontroverstheologischen Auseinandersetzung um den Umfang der HS erörtert Gerhard in den folgenden Kapiteln Einleitungsfragen. Hier finden sich Argumente, die auch heute noch verwendet werde, zum Beispiel bei der Frage der Historizität des Hiobbuches (139–147). Umfangreich wird die Frage nach Alter und Autorschaft der Apokryphen des Alten Testaments behandelt (8. Kap., 168–239). Zum Problem des neutestamentlichen Kanons zitiert Gerhard zahlreiche altkirchliche Schriftsteller zu Fragen von Echtheit und Herkunft (Kap. 9). Ausführlich werden die neutestamentlichen Bücher „zweiter Ordnung“ besprochen: Hebräer (10. Kap., 271–281), Jakobus (281–286), 2. Petrus (286–288), 2. u. 3. Johannesbriefe (289–290); Judas (290–295) und die Apokalypse (295–308).

Die Inspiration ist für Gerhard „innere Form“ der HS (12. Kap., 314), ihre „äußere Form“ sind die Ursprachen Hebräisch und Griechisch. Überzeugend belegt er, dass der lateinische Text nicht zu bevorzugen ist (13. Kap., 320ff). Beim hebräischen Text ist ihm wichtig, dessen Integrität nachzuweisen (14. Kap.). Das Alter der Vokalisierung des hebräischen Textes sieht die alttestamentliche Wissenschaft heute sicher anders als Gerhard, der bei diesem Thema – wie auch bei anderen – Argumente gegen eine von katholischer Seite behauptete Unsicherheit des Textes sucht (15. Kap., 348ff).

Katholische und weigelianische Positionen seiner Zeit, die wie moderne Ansichten historisch-kritischer Exegese klingen, bekämpft Gerhard: Die HS ist kein toter Buchstabe, dem die Kirche erst Bewegung und Sinn einhaucht (356). Sie sei nicht mehrdeutig und dunkel, so dass sie jeder in seinem Sinne auslegen könne (476).

Die HS hat das Ziel, heilsame Erkenntnis und Verehrung Gottes zu schaffen (17. Kap., 377). Im Blick auf dieses Ziel ist sie Gottes Lehrstuhl, Schule, Heilpraxis und geistliche Apotheke, Waffenrüstung und Rüstkammer, sie ist Gottes Hand, die führt (378). Vollkommen ist die Schrift nicht äußerlich nach der Zahl der Bücher, sondern nach der Suffizienz der Lehren, deren Kenntnis heilsnotwendig ist (18. Kap., 383f). Dass sie als Norm und Richtschnur kirchlicher Lehren und Streitfragen verwendet wird, kann aus den Kirchenvätern belegt werden (21. Kap., 486–490). Sie entscheidet kirchliche Kontroversen, denn das innere Zeugnis des Heiligen Geistes und neue Offenbarungen können nicht Richter bei Kontroversen über Glaubensfragen sein (506, ebenso 507–509 gegen die Autorität des Papstes, der Konzilien und auch der Kirchenväter, insofern sie der Schrift widersprechen).

Beim Überblick über Gerhards Argumentation wird deutlich, dass er sich in vielem eng an die Konkordienformel hält. Die Beweisführung der theologischen Gegner wird hauptsächlich an Bellarmins Texten dargestellt und kritisiert. Öfter finden sich auch Seitenhiebe auch gegen Calvinisten, „Photinianer“ („vernünftig“ argumentierende Unitarier) und Weigelianer, wenn sie abweichende Positionen vertreten (418f). Die Zahl der Belege aus Kirchenväterschriften, aus der Zeit der Spätantike und dem Mittelalter ist imposant (vgl. 456). Auch jüdische und humanistische Schriftsteller der frühen Neuzeit werden im Text immer wieder angeführt.

Für einen ersten Überblick über Gerhards Argumentation eignet sich die beigefügte Übersicht „Inhalt der Abschnitte nach Paragraphen“ (676–723). Das Bibelstellenregister führt zur exegetischen Diskussion dogmatischer Topoi hin (724–734), während das Namensregister eher unübersichtlich ist, weil es nicht nach den gegenwärtigen bibliothekarischen Regeln zur Erfassung antiker, mittelalterlicher und neuerer Namen erstellt wurde. Einem wissenschaftlichen Leserkreis wird dies wohl keine Schwierigkeiten machen, und andere Leser dürfte es nicht interessieren.

Heinrich M. W. Kummers Ausgabe von Johann Gerhards Schriftlehre eröffnet einen leichten Zugang zur Diskussion über die Heilige Schrift in der Zeit der altprotestantischen Orthodoxie. Die vorliegende Übersetzung erleichtert den Einstieg in eine Zeit, mit der sich viele wegen fehlender bzw. mangelhafter Lateinkenntnisse oder späterer vermeintlich aufgeklärter Kritik nicht zu beschäftigen trauen. Wer sich das Werk mutig vorknöpft, wird davon profitieren, auch wenn der Band nicht mit den Editionsprinzipien der wissenschaftlichen kritischen Ausgabe von Johann Gerhards Werken in der Reihe Doctrina et Pietas (DeP, Stuttgart: Frommann-Holzboog) mithalten kann. Während die Titel dieser Reihe sehr teuer sind (€ 518,– kostet der lat.-dt. Tractatus de legitima scripturae sacrae interpretatione 1610), kann sich jeder die Gerhard-Übersetzung von Kummer leisten. Für diese angenehme Preisgestaltung muss dem Freimund-Verlag Neuendettelsau ausdrücklich gedankt werden!


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Margarethenkirche Steinen-Höllstein